Die IMJA Gewinner*innen 2020

Musikjournalist*in des Jahres

deutsch

Miriam Davoudvandi // Freelance Musikjournalistin, Das Wetter, Juice, Spex, Backspin

Der Preis für den oder die "Musikjournalist*in des Jahres" erweist sich alle Jahre wieder als besonders knifflig zu vergeben. Fällt es in den übrigen Kategorien schon schwer genug, einzelne musikjournalistische Arbeiten gegeneinander abzuwägen, lässt sich die Gesamtleistung von Kolleg*innen über Jahresfrist hinweg wirklich nahezu gar nicht mehr vergleichen. Erst recht nicht, wenn das Anwärter*innenfeld auf einen Preis aussieht, wie es auch diesmal wieder ausgesehen hat.
Miriam Davoudvandi hat uns die kaum zu treffende Entscheidung in diesem Jahr aber dankenswert einfach gemacht. Sie begegnete uns in den Einreichungen für den IMJA 2020 einfach immer und immer und immer wieder. Ihre Abhandlung über Tierra Whack, erschienen bei Das Wetter, schaffte es auf die Shortlist in der Kategorie "Beste musikjournalistische Arbeit - Text". Zusammen mit dem Vorjahrespreisträger Malcolm Ohanwe war sie für "Slang & Sprache im Deutschrap" auch für die "Beste musikjournalistische Arbeit" im Bereich "Multimedia" in der engsten Wahl. Der Beitrag, der hier letztlich das Rennen gemacht hat, porträtiert unter anderem ... Trommelwirbel ... Miriam Davoudvandi. Ich wette: Wäre ihr brandaktueller Podcast "Danke, gut.", in dem sie einfühlsame Gespräche über mentale Gesundheit führt, nur ein wenig früher an den Start gegangen, hätte sich auch unsere Audio-Jury mit dieser Frau befassen dürfen.
An Miriam Davoudvandi führte nicht nur im Deutschrap, sondern genreübergreifend im hiesigen Musikjournalismus in den letzten Monaten kaum ein Weg vorbei, und wir finden das auch verdammt richtig so. Ihre Sachkunde, ihre Professionalität, ihre so gar nicht konfrontative, dabei aber niemals unkritische Art und, alles überstrahlend, ihre offensichtliche glühende Liebe zur Sache machen ihre Arbeit so informativ, wertvoll und unterhaltsam und sie selbst zu einer Kollegin, der man jeden Erfolg von Herzen gönnt. Weil sie ihn verdient hat. (Dani Fromm für die IMJA Jury)

Für die Jury: Dani Fromm

Das ausführliche "Danke"-Video von Miriam Davoudvandi anschauen

Beste*r
Musik-
Journalist*in
des Jahres

englisch

Laura Snapes // Musikredakteurin, The Guardian

Der Preis für die „Beste*r Musikjournalist*in des Jahres“ geht dieses Jahr an Laura Snapes, die seit Jahren ganz besonders gut über Popkultur schreibt. Sie war zunächst Redakteurin beim NME und bei Pitchfork und ist seit 2018 beim Guardian für Popkultur zuständig. Laura Snapes schreibt dort nicht nur über Musik, sie favorisiert einen breiteren Zugang zur Popkultur. Kim Kardashians Umgang mit der Krankheit ihres Mannes oder Madonnas Falschaussagen über Corona stehen neben präzisen und lustigen Rezension über Taylor Swift tolles letztes Album. Ein Interviewband über die französische Band Phoenix („Liberté, Égalité, Phoenix!“) ist bislang ihr einziges Buch geblieben. Doch da wird noch einiges kommen, darauf können wir uns gefasst machen. Denn Laura Snapes recherchiert seit Jahren unerschrocken über strukturelle Misogynie in der Musikbranche. Und ihre subtilen und perfiden Ausformungen in dem Bereich, den man mal Independent nannte, wo es ja zumindest dem eigenen Selbstverständis nach bekanntlich nur so von zarten, aufgeklärten, traurigen und femininen Männern wimmelt. Ein Schutzschild, hinter dem sich bislang frauenfeindliches Verhalten besonders gut verstecken ließen. „Beta male misogyny“ nennt Snapes diese Verhaltensweisen, die sich gegen Frauen richten. Trotz öffentlicher sexistischer Diffamierungsversuche wichtiger Indiestars, lässt sie sich nicht beirren, Misogynie in ihren sehr unterschiedlichen Formen zu analysieren. Um mal eine eher harmlose Degradierung herauszupicken: Zu poppig etwa, sind vor allem weibliche Popstars. Snapes kann für uns aber gar nicht poppig genug sein.

Für die Jury: Mascha Jacobs

Beste*r
Musik-
journalist*in
des Jahres

französisch

Ouafa Mameche // Herausgeberin, Journalistin

Mit "Faces Cachées" ("Verborgene Gesichter") einer Kolumne, die erst Blog wurde und nun Verlag ist, hat Ouafa den Porträts des französischen Rap im popkulturellen Diskurs Tiefe verliehen. Inzwischen moderiert sie ihren eigenen Podcast und gibt Künstler*innen eine Stimme, die inspirierend, aber oft unsichtbar sind.
Sie arbeitet regelmäßig oder hat für folgende Medien gearbeitet, die sich auf urbane Musik konzentrieren: Das Webzine ABCDR du son, die Radiosendung AfterRap, die im staatlichen Radio Mouv' ausgestrahlt wird, App Keakr, Webradio, das vom französischen Rapper Booba OKLM Radio gegründet wurde...  neben dem Start ihres eigenen Podcasts über französischen Rap.
Sie hat einen einflussreichen Artikel mit dem Titel "Retour d'expérience sur l'activité de critique de musical" geschrieben (der sich mit "Feedback zum Musikkritiker*innen-Dasein" übersetzen lässt). Der Artikel entwickelt Ideen, die sie in mehreren Universitätssymposien und Fachgremien zum Ausdruck gebracht hat. Er ist in dem Sammelband "Perspectives esthétiques sur les musiques Hip Hop" (Chants Sons / PUP 2020) veröffentlicht worden.

Die IMJA Jury

Das ausführliche "Danke"-Video von Ouafa Mameche anschauen

Beste*r
Musik-
journalist*in
des Jahres

Dänisch

Kristian Karl // Journalist, soundvenue.com

Dänischer Rap und Hip-Hop hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wandel durchgemacht. Hip-Hop hat sich von einem Außenseiter zu einer Macht entwickelt, mit der man rechnen muss. Mit anderen Worten, was wir in Dänemark gesehen haben, ist dasselbe, was Hip-Hop auf internationaler Ebene passiert ist: Es ist so ziemlich der neue Pop. Hip-Hop ist überall. Er ist auf TikTok, auf Soundcloud, er gedeiht in den seltsamsten Ecken des Internets und folgt buchstäblich seinem eigenen Beat. Deshalb ist jede*r Musikjournalist*in so wertvoll, die/der genau weiß, womit sie/er oder sie es zu tun hat. Auftritt: Kristian Karl. Er ist ein Hip-Hop-Kenner, aber in erster Linie ist er ein ausgezeichneter Kommunikator von Musik. Er ist der Hauptmoderator von Soundvenue Standard, einem wöchentlichen Hip-Hop-Podcast, aber er ist auch ein großartiger Autor. Und ganz gleich, ob er aufschlussreiche Kommentare oder Berichte aus den Straßen schreibt, wo so viel Hip-Hop geboren wird, er erzählt seine Geschichten mit einer Leichtigkeit und Klarheit, die sowohl die Insider des Genres als auch die Menschen, die von außen folgen, anspricht.

Für die Jury: Pernille Jensen

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Text - deutsch

Ariana Zustra // Ariana Grande und das "Blackfishing" - Wo beginnt Rassismus? - Kaput (08/2019)

Ariana Zustra, Jahrgang 1987, Musikerin und freie Musikjournalistin, hat sich im August 2019 für das „Kaput“-Magazin mit dem Phänomen des blackfishing auseinandergesetzt, mit dem in den USA weißen Künstler*innen vorgeworfen wird, wie Schwarze aufzutreten. Eine von ihnen ist die 26 Jahre alte Popsängerin Ariana Grande, der das als Rassismus vorgeworfen wird. Nicht nur, weil im Zuge des Todes von George Floyd im Mai 2020 die „Black Lives Matter“-Bewegung eine erneute Welle an Unterstützung erlebt, sieht die Jury in Zustras Text einen spannenden Beitrag zur aktuellen Debatte. Sondern auch, weil Ariana Zustra eine überraschende Antwort auf die Frage: „Ist Blackfishing das neue Blackfacing?“ findet.
Zustra zeigt in „Ariana Grande und das ‚Blackfishing‘ – wo beginnt Rassismus?“ die Verwandlung des ehemaligen Disney-Stars auf, die auf vielen Ebenen stattfindet. Nicht nur das Aussehen, sondern auch Grandes Musik und Sprache bedienen sich der kulturellen Traditionen einer unterdrückten schwarzen Minderheit und das, wie Grande vorgeworfen wird, allein aus Marketing-Gründen, also um Geld zu verdienen. Die Tatsache, dass Grande ihre „Hautfarbe“ so einsetzt, wie sie am meisten Erfolg verspricht, macht das „Schwarzsein“ zu einem Accessoire, schreibt Zustra, um anschließend jedoch einen Rückblick auf das Phänomen der kulturellen Aneignung zu geben. „Es gibt keine trennscharfe ‚schwarze‘ oder ‚weiße‘ Kultur“, analysiert Zustra und findet einen abschließenden Ansatz, der ohne Verurteilung auskommt: „Anstatt Weißen die Annäherung an eine ‚schwarze Kultur‘ einzuschränken, sollte das Ziel sein, dafür zu sorgen, dass Schwarze wegen ihrer Kultur und Hautfarbe nicht diskriminiert werden.“
Zustras Herleitung und Argumentation enthält sich allem, was für die Journalistin leicht gewesen wäre: Draufhauen auf ein blondes Popsternchen, das das Schwarzsein für sich entdeckt hat, um mehr Geld zu verdienen. Die Autorin inspiriert ihre Leser*innen, sich – statt vorschnell eine Meinung zu haben – für die Gleichberechtigung aller Kulturen einzusetzen. Ein Fazit, das aktueller nicht sein könnte.

Für die Jury: Susanne Baller

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Text - englisch

Kieran Press-Reynolds // How TikTok is Taking the Tunes out of Pop - Highsnobiety (03/2020)

Nachdem ich seit einigen Jahren in der Jury des Internationalen Musikjournalismus-Preises mitgewirkt habe, ist mir ein gewisses Muster aufgefallen, das den deutschen Musikjournalismus von seinem englischen oder amerikanischen Pendant unterscheidet. In den deutschen Stücken geht es meist um einzelne Künstler*innen oder Bands, in den anglo-amerikanischen Texten geht es häufiger um bestimmte Phänomene oder Szenen. Letzteres erscheint mir persönlich faszinierender und lehrt mich mehr. 
Kieran Press-Reynolds' Text über TikTok Rap mit dem Titel "How TikTok Is Taking The Tunes Out Of Pop" ist ein Paradebeispiel für diesen investigativen Ansatz. Nachdem er ein scheinbar neues Phänomen identifiziert hat - nicht nur einen neuen Trend, sondern eine neue Form kulturellen Verhaltens in Verbindung mit einer neuen digitalen Plattform - setzt er sich hin und recherchiert gründlich, was genau darunter zu verstehen ist, und definiert diese Neuheit in einer "Taxonomie neuer Subkulturen und Klänge", wie mir eine ihm nahe stehende Quelle erklärte. Press-Reynolds' überwältigende Schlussfolgerung ist im Wesentlichen zweifacher Natur: In Zukunft muss ein Lied nicht länger als 15 Sekunden sein - die Länge eines TikTok-Clips; und wo es früher eine Melodie gab, wird es stattdessen verzerrte Bassschleifen geben, da diese in hohem Maße "clippbar" sind. 
Erst nachdem ich sein Stück mit großem Vergnügen gelesen hatte (und mich prompt zwei Stunden lang auf TikTok verirrte, wo ich mir "Renegade"-Clips ansah), sah ich mir genauer an, wer der Autor tatsächlich war, und erkannte, warum sein Name mir bekannt vorkam. Und in der Tat sind die Musik- und Kultur-Autor*innen Joy Press und Simon Reynolds seine stolzen Eltern; ein gewisses analytisches Talent und sprachliches Gespür scheinen in der Familie zu liegen.  Apropos Laufen: Im noch zarten Alter von 21 Jahren kann Kieran Press-Reynolds bereits auf mehrere Jahre als vielversprechender Sportler und Langstreckenläufer zurückblicken. Hoffen wir, dass er seine Hingabe, über die Distanz zu gehen, in seinem Schreiben zum Ausdruck bringt. Press-Reynolds schließt seinen preisgekrönten Text mit der Feststellung, dass Andy Warhols 15 Minuten Ruhm nun auf nur noch 15 Sekunden geschrumpft sind. Ich sage voraus, dass wir mindestens 15 Jahre lang in den Genuss seiner hochwertigen Erkenntnisse über bisher unbekannte Musikphänomene kommen werden.

Für die Jury: Hans Nieswandt

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit 
des Jahres

Text - dänisch

Ralf Christensen, Louise Rosengreen, Rasmus Steffensen, Sophia Handler // "Informations drømmefestival" (Artikelserie in der Tageszeitung Information)

Als das Jahr 2020 begann, war niemand darauf vorbereitet, dass ein neues Virus der Musikszene einen vernichtenden Schlag versetzen und 2020 zum Jahr ohne Festivals machen würde. Ein Team von Musikjournalist*innen der Zeitung Information verweigerte sich jedoch, klein bei zu geben, und schuf ein eigenes imaginäres Traumfestival mit einem atemberaubenden Line Up.
Kate Bush, Joni Mitchell und Frank Ocean, aber auch weniger bekannte Künstler wie die sambische Hip-Hop-Herrscherin Sampa the Great, die verletzte Coolness des schwedischen Rappers Yung Lean und die mythologisch-politische Folklore von DakhaBrakha aus der Ukraine sind Gegenstand der großartig geschriebenen Konzertkritiken von Ralf Christensen, Louise Rosengreen, Sophia Handler und Rasmus Steffensen.
Die Konzerte haben nie stattgefunden, aber die Beschreibungen lassen sie uns deutlich sehen und fühlen. Kate Bush, die fast nie live spielt, wird in einem seltenen Set vorgestellt, in dem die Sängerin in einer durchsichtigen Blase schwebt, die mit phosphoreszierendem, eisblauem Wasser gefüllt ist, und später in ein magnetisches Kleid gekleidet, das blutige Dolche vom Bühnenboden anzieht. Joni Mitchell ist die weise alte Frau auf einem Hochsitz, an einen Stock geklammert, umgeben von sie verehrenden jungen Künstlerinnen wie Nadia Reid, Laura Marling, Bedouine und Brandi Carlile. Frank Ocean verwandelt einen der großen Parks Kopenhagens in eine quadrophonische Traumbühne unter blendendem musikalischen Einsatz der vielen Auto-Modelle, die in seinen Liedern vorkommen. Die Artikel blättern die Lebensgeschichten der Künstler auf, zeigen dem Leser neue Seiten bekannter Musiker und stellen aufregende neue Namen vor.
Das „Drømmefestival“ von Information verwandelte die traurige Leerstelle fehlender Festivals in eine Feier der transformierenden Kräfte von Live-Musik und des Festival-Erlebnisses, während es Musikjournalismus von seiner besten Seite zeigte.

Für die Jury: Anya Mathilde Poulsen

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Text - französisch

Sophian Fanen // "Le Chants des Machines: l'intelligence artificielle entre dans la pop" (Les Jours)

Bringt das Konzept Künstlicher Intelligenz und die Art, wie sie die Popmusik durchdringt, genau auf den Punkt. Brillante Analyse der aktuellen Musikkultur in der Qualität und Tiefe, die wir bei Artikeln von Sophian Fanen gewohnt sind.

Die IMJA Jury

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Audio - deutsch

Nabila Abdel Aziz // Wie die Aufstände in der Arabischen Welt die arabische Musik revolutionierten – Zündfunk / BR (02/2020)

Nein, Musik ist keine „universelle Sprache“, wie so gern behauptet wird. Ohne kulturellen Kontext, ohne Deutung und Zusammenhänge ist der Zugang oft schwer – weshalb Nabila Abdel Aziz mit ihrem Feature über den Wandel der Musik in der Arabischen Welt für viele von uns ein immens wertvolles Stück Aufklärungsarbeit geleistet hat.
Je tiefer sie uns in die alternativen, eklektischen Musikszenen von Ländern wie Tunesien, Ägypten, Syrien und Sudan führt, desto offensichtlicher wird, dass unser gewohnter Horizont nicht selten nur ein enger Tellerrand ist. Wie wunderbar, hier neue Aus- und Einblicke zu bekommen! Verstehen zu lernen, wie eine neue Generation arabischer Künstler*innen – oft an der Grenze der Legalität ihrer jeweiligen Heimat – daran arbeitet, den einlullenden Soundtrack unterdrückerischer Regime mit ihren eigenen Stimmen zu übertönen, ist eine echte Bereicherung.

Für die Jury: Christoph Lindemann

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Audio - englisch

Cole Cuchna // Dissect (Podcast) - S6 Beyoncé Lemonade - Spotify (04/2020)

Dissect, dieser Podcast widmet sich in jeder Staffel einem bedeutendem HipHop-Album. Zu jedem einzelnen Song gibt es eine 40-minütige Folge, in der in detailverliebter Feinarbeit Textpassagen, musikalischer Aufbau und Bedeutungsebenen analysiert werden. Cole Cuchna recherchiert, analysiert, schreibt, spricht und produziert alles im Alleingang.
Vor Kurzem hat er Beyoncés Album „Lemonade“ seziert. Da ist Cuchna sogar noch einen Schritt weitergegangen, um diesem Werk gerecht zu werden. Seine Analyse beschränkt sich nicht nur auf die auditive Ebene dieser Platte, sondern er lässt auch das dazugehörige Visual-Album in die Interpretation und Analyse einfließen. Dabei hangelt er sich von Detail zu Detail.
Cuchna dekodiert Schritt für Schritt einzelne Video-Szenen und Textzeilen, die geschichtliche Relevanz in der afroamerikanischen Vergangenheit haben, um sie umfassend zu erklären und einzuordnen. 
Gerade in einer Zeit, in der weltweit Millionen von Menschen auf die Straße gehen, um gegen Polizeigewalt gegen die Black Community zu demonstrieren, in der systemischer Rassismus aufgezeigt wird, ist diese Beyoncé-Staffel von Dissect von großer Bedeutung. Ein Song, bei dem wir im Auto mitsingen und dessen Musikvideo nebenbei auf dem Laptop läuft, bekommt plötzlich eine düstere Schwere und eine kulturelle Kontextualisierung, die uns sonst entgangen wäre.
Darüber hinaus preist Cuchna die Popmusik, die inzwischen meist nur noch mit wenigen Schlagworten besprochen wird, indem er tief in die Materie eindringt und deren künstlerischen Wert herausarbeitet. Damit bereichert Cuchna Popmusik-Kultur auf eine Weise, die in der heutigen Medienwelt ihresgleichen sucht.

Für die Jury: Claudia Kamieth

Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Audio - dänisch

Lucia Odoom // "Politikens Poptillæg" Podcast

Im Internetzeitalter, in dem die enzyklopädische Weisheit konventioneller Musik-Expert*innen an Boden verliert, hat dieser wöchentliche Podcast in den vier Jahren seines Bestehens einen radikal eigenständigen und klugen Ansatz für Musikjournalismus gewählt. Enthusiastisch in ihrem sehr persönlichen Tonfall moderiert von der Musikkritikerin Lucia Odoom, geht diese "Pop-Beilage" über das Format der Besprechung einzelner Alben hinaus und verbindet Popmusik mit breiteren Diskussionen aus dem kulturellen Bereich. Mit intimen aber qualifizierten Gruppengesprächen und klanglich interessanter Produktion ist der Podcast zu einer allgemeinen Plattform für liebevolle, neugierige und analytische Gespräche über Popkultur geworden. Es ist ein Ort, an dem Hochkultur und Underground gleichberechtigt sind und in dem erwartet werden kann, dass die tiefere Bedeutung von Haarspangen-Trends oder Fragen der sozialen Ungerechtigkeit neben Soundcloud-Rap oder dem ikonischen Status von Joni Mitchell diskutiert werden. Sensibel für das, was uns als Musikkonsument*innen bewegt und berührt, teilt Lucia Odoom ihren beeindruckenden Überblick, während sie die Art und Weise erforscht, wie Musik oft tief mit unserem täglichen Leben und unseren persönlichen Erinnerungen verwoben ist.

Für die Jury: Anna Ullman

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Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Multimedia - deutsch

Miriam Fendt, Fridolin Achten, Frederik Kunth, Philipp Laier // Visa Vie, Josi Miller, Cashmiri / Co.: Wie diese Frauen Deutschrap prägen - Puls Musik (03/2020)

Das Märchen, deutscher Hip Hop sei Männersache, haben wir jetzt wirklich lange genug erzählt bekommen. "Visa Vie, Josi Miller, Cashmiri und Co.: Wie diese Frauen Deutschrap prägen" aus der Reihe "Puls Musik Analyse" leistet einen wertvollen Beitrag zum dringend nötigen Perspektivenwechsel. 
Solide recherchiert, nachvollziehbar strukturiert und angenehm präsentiert, porträtiert das knapp viertelstündige Video Frauen, die als Produzentinnen, Produzentinnen, DJs, Fotografinnen, Regisseurinnen, Journalistinnen, Podcasterinnen und Veranstalterinnen alle Bereiche des Rap-Games geprägt haben. Die Auswahl der Protagonistinnen beschränkt sich dabei nicht auf die drei in der Headline gedroppten Namen. Hinter dem "und Co." im Titel stecken unter anderem Melbeatz oder Katja Kuhl, die schon Deutschraps Kindertage wesentlich mitgestaltet haben. Damit gerät der Beitrag nicht nur rein informativ, sondern unterhöhlt subversiv das gängige Narrativ. Siehste? Deutschrap war nie wirklich eine Männerdomäne. Wer das immer noch glaubt, hat nicht sehr genau hingesehen.
Dass diese Erkenntnis doch wieder ein Mann in die Kamera moderiert, mag der einen oder anderen im ersten Moment leise sauer aufstoßen. Tatsächlich ist aber zu begrüßen, wenn Veränderungen nicht länger nur die Angelegenheit unmittelbar Betroffener bleibt. Erst wenn Feminismus keine Frauensache mehr ist, sondern Anliegen und Bestreben aller, haben auch alle gewonnen. Heute gewinnen aber zunächst einmal Miriam Fendt, Friedl Achten, Frederik Kunth und Philipp Laier. Herzlichen Glückwunsch.

Für die Jury: Dani Fromm

Das ausführliche "Danke"-Video von Miriam Fendt, Fridolin Achten (stellvertretend auch für Frederik Kunth, Philipp Laier) anschauen

Beste
musikjournalis-
tische Arbeit
des Jahres

Multimedia - englisch

Alzo Slade, Eric Weinrib, Lyle Kendrick, Kelly Kendrick, Jared Perez, Daniel Plyam // Russia's War on Hip-Hop - Vice Investigates (11/2019)

„Künstler sind nicht die eigentliche Ursache der Probleme, Künstler spiegeln nur die Probleme wider". So lautete das Zitat am Anfang des Dokumentarfilms, das den Kern der meisten politisch aufgeladenen Musik trifft, und auch den Kern von Hip-Hop, seit seiner Erfindung in den 1970er Jahren auf Blockpartys zu einer kulturellen und künstlerischen Bewegung und zu einem Spiegel der Gesellschaft geworden. Hip-Hop erstarkte in den 80er Jahren zur perfekten Form um die durch Jahrhunderte sozialer Ungerechtigkeiten verursachten Leiden der Black / Brown Communities zu vokalisieren und auszudrücken. 
Heute ist Hip-Hop und Rap für junge Menschen auf der ganzen Welt zu einem Ausdrucksmittel geworden und hält ihren eigenen Ländern den Spiegel gesellschaftlicher und politischer Ungerechtigkeiten vor, unter Einbeziehung der Einflüsse des musikalischen Erbes der jeweils eigenen Kultur.. 
Ich fand dieses Stück über den Krieg gegen den Hip-Hop in Russland aufschlussreich und ein tiefes Eintauchen in ein Land und seine Jugend, die keine Anzeichen von Aufgeben zu zeigen scheinen, trotz des Drucks gegen ihre Botschaften der Unzufriedenheit, den Politiker, lokale Beamte und/oder Selbstjustizgruppen ausüben, die irgendwie die Gefahr spüren, die von der Jugendkultur ausgeht, und Risse im Glauben an ein längst gescheitertes System fürchten. Dies alles geschieht in der nebligen Welt zwischen alter sowjetischer Propaganda, an der die Politiker und Beamten festhalten, und den neu gefundenen Freiheiten des Ausdrucks, mit denen die Hörer von Hip-Hop und Rap erfüllt zu sein scheinen. Ich fand, dass die Nachforschungen und Interviews, die Alzo Slade führt, trotz und vor dem sehr schweren Hintergrund dessen, was die Künstler durchmachen, und trotz des ernsten Tons der Beamten und der Vigilanten, mit denen er sprechen konnte, Leichtigkeit bewahren, dass sie aber die Überlegungen aufzeigen können, die die jüngeren Generationen über sich selbst und ihre Rolle in diesem besonderen Moment der Kuktur anstellen. Es entstetht das Gefühl, dass die russische Jugend unwissentlich darauf gewartet hat, dass das Internet kommt und diese Liebe und den künstlerischen Ausdruck, die der Hip-Hop bietet, entflammt, aber sich dabei das Ganze zu eigen gemacht hat.

Für die Jury: Melissa Perales

Das ausführliche "Danke"-Video von Alzo Slade (stellvertretend auch für Eric Weinrib, Lyle Kendrick, Kelly Kendrick, Jared Perez, Daniel Plyam) anschauen

Beste 
musikjournalis-
tische Arbeit 
unter 30 Jahren

deutsch

Stefan Sommer // Neuer Deutscher Rechtsrap: Chris Ares - PULS BR / Süddeutsche Zeitung (09/2019)

Im Tonfall sachlich, sauber recherchiert und mit analytischem Tiefgang zeigt Stefan Sommer die Verstrickung eines "patriotischen Rappers" mit parteipolitischem Kalkül und neurechter Szene auf.
Musikjournalismus als Investigation und Aufklärung, Haltung statt Pose.

Das ausführliche "Danke"-Video von Stefan Sommer anschauen



Bahar Sheikh // Opfer, Täterin, so vieles mehr (Paywall) - Missy (09/2019)

Schultert die Aufgabe, den Zwiespalt auszudrücken, den das Buch der kontroversen Figur der Deutschrap Szene hinterlässt und kommentiert dabei Konflikte aktueller Feminismus-Debatten über Sexarbeit. 

 

Sebastian Lessel // Orientalismus wegflexen - Spex (11/2019)

Souveräne Einführung in die neue Normalität einer nicht-europäischen, nicht-amerikanischen Popkultur, hier der aus dem Maghreb. Angenehm-selbstverständlicher Text über eine alternative Musikrealität, ohne zu fremdeln, ohne zu patronisieren, ohne zu kuscheln.

Das ausführliche "Danke"-Video von Sebastian Lessel anschauen

 

Für die Jury: Christian Tjaben